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Welt aus den Fugen

Montag, 2022-07-25 | 21:57:05 CET

Es ist dazu nicht mehr viel zu schreiben, was nicht schon von Berufeneren geschrieben worden wäre. Und doch: es ist verblüffend, ja buchstäblich erschütternd, wie vermeintliche Gewissheiten, mit denen wir doch einige Jahre gelebt haben, nun plötzlich nicht mehr so unerschütterlich erscheinen: dass die sichere Versorgung mit Energie und Nahrung zu bezahlbaren Preisen eine Selbstverständlichkeit ist, dass jede Ware oder Dienstleistung problemlos erworben werden kann, das Kleingeld vorausgesetzt; dass es nie an Personal mangelt und die komplexen Warenströme rund um den Globus sich in einem so stabilen dynamischen Gleichgewicht befinden, dass es kaum aus dem Lot zu bringen ist. Dass existentielle Probleme immer andere Teile der Welt treffen.

Eine Pandemie, ein konventioneller Angriffskrieg wie aus dem letzten Jahrhundert, und die ersten handfest greifbaren Anzeichen des sich tatsächlich ereignenden Klimawandels – und schon ist alles anders. Die Warenströme mindestens zeitweilig unterbrochen, die Energie plötzlich sehr teuer, dazu grosse Zahlen von Menschen, die sich nach den Erfahrungen der letzten zwei Jahre einen neuen Broterwerb suchen, sowie eine weitere grosse Zahl von Kriegsflüchtlingen auf diesem Kontinent, die sich mit der Notwendigkeit konfrontiert sehen, ihr Leben und sich selbst gänzlich neu zu erfinden, an einem Ort fern der Heimat.

Plötzlich wird auch dem letzten bewusst, dass seine online bestellte Vase im italienischen Design in Tat und Wahrheit aus China kommt und ohne weiteres ein paar Monate auf einem Frachter feststecken kann, der vor einem internationalen Hafen dümpelt, weil das Personal fehlt, ihn zu entladen. Dass er seinen Kaffee im Restaurant nur dann ohne eigenes Zutun geniessen kann, wenn ihm jemand denselben auch an den Tisch serviert (typischerweise jemand in einem prekären Job, mit schlechter Bezahlung und grosser Unsicherheit). Dass der Flug nach Mallorca, fair bepreist, plötzlich eben nicht mehr billiger ist als die Bahnfahrt in ein benachbartes Bundesland. Dass einen ein dummes Virus, eingefangen beim letzten Musikfestival, problemlos umbringen kann. Dass Immobilienpreise nicht einfach immer steigen und Zinsen nicht einfach immer sinken.

Der plötzliche Schrecken darüber, dass eben nicht jeder Konsumartikel zu erwerben, jede Dienstleistung zu haben, jede günstige Reise möglich und die eigene körperliche Unversehrheit stets garantiert ist, bei im Winter kuschelig geheizten Wohnungen, ist natürlich das Merkmal der höchst Privilegierten. Anderswo sind Krankheiten oder Krieg, Versorgungsmängel und Energieknappheit schon immer die Regel, nicht die Ausnahme gewesen. Aber eben: solche Probleme waren immer die Probleme anderer, nicht die unseren. Was waren wir doch verwöhnt.

Und schlussendlich geht es uns im Vergleich ja immer noch sehr gut. Wir jammern auf hohem Niveau. Aber dieses Gefühl, dass immer alles wie gewohnt weitergeht, sich alles von selber regelt, das ist doch nachhaltig erschüttert. Vielleicht tut uns dieser kleine Schock ganz gut.

 

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