Corona zum Dritten
Montag, 2020-05-25 | 0:06:05 CET
Einige weitere Wochen sind mittlerweile wie im Fluge vergangen, und die frohe Botschaft ist natürlich, dass es mit einigem Effort und unter grossen v.a. wirtschaftlichen Opfern gelungen ist, »die Kurve« abzuflachen. Das ist erst einmal grossartig, konnte doch eine Überlastung des Gesundheitswesens verhindert werden. Die Zahl der täglichen Neuansteckungen ist erfreulich gering, und während jeder einzelne Tote einer zu viel (und die tägliche Null noch nicht erreicht) ist, gibt es auch hier einen breiten Silberstreifen am Horizont. Und: wir dürfen uns wieder professionell die Haare schneiden lassen, wenn auch höchst ungewohnt mit Maske. Grosser Fortschritt! Nicht unbedingt wegen meines Looks, aber für das Coiffeur-Gewerbe, wo endlich wieder Geld verdient werden kann.

Damit hat es sich allerdings leider mit den guten Nachrichten. Der ganze Rest: zum Verrücktwerden. Nachdem sich der Schweizer Bundesrat lange durch vernünftige Entscheidungen und klare Kommunikation hervorgetan und damit weitgehend erfolgreich die akute Krise entschärft hat, ist man mittlerweile unter dem Druck der Wirtschaft, von Lobbyisten und dem eher rechten politischen Lager (und unter dem Eindruck einer Corona-Müdigkeit bei der Bevölkerung) ein bisschen sehr schnell an's Lockern gegangen. Ich bin damit einverstanden, den wirtschaftlichen Schaden nicht unnötig gross werden zu lassen. Zu viele Existenzen sind bedroht. Auf der anderen Seite hätte ich es vernünftig gefunden, bei einem schrittweisen Vorgehen zu bleiben, und nach jeder Lockerungsmassnahme ihre Auswirkungen zu beobachten, bevor man den nächsten Schritt macht. So ist man nun vor lauter Eile fast über seine eigenen Füsse gefallen, und nicht nur geht jetzt plötzlich wieder fast alles – auch die klare Kommunikation hat unter dem forschen Vorgehen gelitten. Bei vielen hat die Kombination aus erfreulichen Zahlen und den zahlreichen Lockerungsmassnahmen den falschen Eindruck entstehen lassen, die Sache sei ausgestanden, und man müsse nun eigentlich keinerlei Rücksicht mehr nehmen. Und es vergeht kein Tag ohne neue Forderungen irgendwelcher Gruppen, Einschränkungen aufzuheben …
Dazu kommen die erstaunliche Fähigkeit der Menschen, unangenehme Erinnerungen sehr schnell zu verdrängen, und das »Präventions-Paradox«: die Tatsache, dass der begrenzte Schweizer »Lockdown« funktioniert hat, wird nun als Beleg dafür gesehen, dass er eigentlich gar nicht nötig, oder jedenfalls übertrieben gewesen sein muss. Was für ein Unsinn.
Der lässt sich allerdings noch steigern: kaum ist der Lockdown de facto grossenteils vorbei, sammeln sich Esoteriker, Verschwörungstheoretiker und andere Spinner, um gegen selbigen zu protestieren. Ich sag's mal so: grundsätzlich ist es zu begrüssen, wenn die Menschen sich ihre Rechte nicht blind und kritiklos nehmen lassen. Auch bin ich dafür, dass das Demonstrationsrecht schnell wieder hergestellt wird. Wenn man unter gewissen Bedingungen (Sicherheitsabstand etc.) einkaufen kann, kann man auch unter Einhaltung von Sicherheitsregeln demonstrieren. Aber wenn jemand ernsthaft denkt, das Virus gäbe es in Wirklichkeit gar nicht, und sich so über den Lockdown sorgt, wieso war diese Person dann nicht am 18. März auf der Strasse? »Kann ja nichts passieren«, wenn es das Virus nicht gibt?
Am Schluss bleibt das mulmige Gefühl, auf einem Pulverfass zu sitzen. Ziemlich viele Menschen haben offensichtlich keinerlei Lust mehr, sich an irgendwelche Sicherheitsabstände zu halten oder Menschenansammlungen zu meiden. Die, die am lautesten nach einer Maskenpflicht gerufen und den Bundesrat dafür kritisiert hatten, nicht schnell genug Masken herbeigeschafft zu haben, weigern sich jetzt, eine zu tragen – trotz klarer Maskenempfehlung für den ÖV, beispielsweise. Restaurants sind wieder offen, Kirchen gehen wieder auf: Beispiele aus Deutschland zeigen, wie schnell ein einzelner Funke das Feuer wieder anfachen kann (20 Neuinfizierte nach einem Restaurantbesuch, in Frankfurt über 100 nach einem Gottesdienst …) – da ahnt man nichts Gutes für die kommenden Monate.
Der berühmte Nagel
von Schubsi - Montag, 2020-05-25 | 9:00:01 CET
Hallo Jan,
vielen Dank, du hast den Nagel auf den Kopf getroffen. Genau das denke ich auch und es ist schön zu sehen, dass es noch andere Menschen mit der gleichen/einer ähnlichen Meinung gibt.
In Deutschland beführworten (oder billigen zumindest) laut einer Umfrage 25% der Menschen die »Anti-Corona-Demos«. D.h. jeder vierte hat etwas ganz entscheidendes nicht verstanden. Schlimme Vorstellung …
Viele Grüße
Schubsi
Die Spinner sind in der klaren Minderheit …
von Jan - Montag, 2020-05-25 | 21:05:14 CET
… finden aber in der heutigen Medienlandschaft und den sozialen Netzwerken jede Menge grosse Sprachrohre. Die Normalos sind halt einfach nicht so spannend.
Aber die 25%, die die Demos billigen? Das kann einem tatsächlich Sorgen machen. Die Zahl kannte ich nicht.


