Lockerungsfrust
Sonntag, 2022-02-13 | 23:20:51 CET
Man hört dass es in den nächsten Tagen in der Schweiz zum selben Phänomen kommen wird wie schon zuvor in anderen Ländern: während es einerseits noch immer riesige Ansteckungszahlen gibt (Inzidenz ca. 2'800, wenn auch sinkend), mit hoher Dunkelziffer, und die Krankenhäuser noch immer unter der Last ächzen, sollen sämtliche Massnahmen der Pandemiebekämpfung sofort aufgehoben werden – möglicherweise mit Ausnahme einer reduzierten Maskenpflicht, aber ansonsten ziemlich vollständig.
Es scheint egal zu sein, wie viele tausend zusätzliche »Long Covid«-Fälle wir uns auf diese Art einhandeln (wie schwerwiegend sich dieses Krankheitsbild äussern kann, sehe ich in der direkten Nachbarschaft). Oder Menschen mit geschädigtem Herz [1]. Oder mit erhöhten Diabetes-Risiko [2]. Hauptsache, alle können wieder ungestört in's Kino.
Ich weiss, ich rede mich jetzt leicht. Die Pandemie hat der Politik eine grosse Zahl schwierigster Abwägungen und Entscheidungen abverlangt, in Situationen mit vielen Unbekannten. Die Balance zwischen medizinischer Vernunft und Rücksicht auf die Wirtschaft, die war stets schwer zu finden, und rückblickend würde man vermutlich manches anders machen: unweigerlich wurden auch Fehler gemacht.
Was jetzt stattfindet, das sollte man jedoch ganz ehrlich benennen als das, was es ist: die Politik knickt ein vor dem Unmut einer lautstarken Minderheit und lässt nun eben doch eine kaum kontrollierte Durchseuchung zu. »Es hatte ja jeder die Chance, sich zu impfen« – ja schon, ich habe sie genutzt, und die erschütternd tiefe Impfquote ärgert mich genauso wie viele andere, nur – das ist eben nur ein Teil der Geschichte. Mir kommt es vor, als wäre man mir in den Rücken gefallen. Zwei Jahre lang habe ich wie viele auf sehr viel verzichtet, um ja nicht angesteckt zu werden – und von heute auf morgen ist alles egal.
Ich freue mich auch, wenn das Leben im Frühjahr wieder losgeht. Angesichts sinkender Inzidenzen sind gewisse Lockerungen angezeigt. Aber vor möglichen Langzeitfolgen des aktuellen Vorgehens graust es mir jetzt schon. Und vor dem Herbst.
Update, 2022-02-19: am Mittwoch war es dann soweit. Bundespräsident Ignazio Cassis verkündete lachend (und hustend) wie erwartet die Aufhebung nahezu aller Massnahmen, es bleiben Masken im ÖV und Gesundheitsbereich. Am nächsten Tag war er Corona-positiv: die besten Pointen schreibt das Leben. – Jetzt geniessen wir die wiedergewonnenen Freiheiten und vertrauen auf die vielzitierte Selbstverantwortung. Die Erfahrungen der letzten zwei Jahre machen diesbezüglich allerdings wenig Hoffnung.
[1]
https://www.science.org/content/article/covid-19-takes-serious-t...
[2]
https://www.cdc.gov/mmwr/volumes/71/wr/mm7102e2.htm?s_cid=mm7102...


